Offener Brief an Bundesminister Rudolf Anschober und die Wr. Stadtregierung

Wir haben uns in der Vergangenheit oft über die Krisenpläne der Stadt Wien beschwert und müssen uns nach wie vor darüber ärgern. Das Hauptproblem sehen wir in einem Prozess, in dem von oben entschieden wird, ohne die Bedürfnisse der Betroffenen zu achten. Wir sehen im Umgang mit Corona in Massenquartieren, mit Verdachts- und positiv getesteten Fällen, mit Quarantäne eine Kulmination dieser Entwicklung: Menschen werden in ihren ohnehin schon prekären Lebensverhältnissen weiter unter Stress gesetzt, mit Informationen, medizinisch, psychologisch, sozial noch mehr unterversorgt, etc. Deswegen freut uns diese Initiative zur Abschaffung von Massenquartieren und für Zugang zu einem eigenen privaten Wohnraum für alle Menschen in Österreich und wir unterstützen sie gerne!

Dennoch wollen wir auch hier anmerken, dass auch bei einer möglichen Abschaffung die Betroffenen möglichst weit miteinbezogen werden müssen und dies auf Freiwilligkeit beruhen muss.

Wir dokumentieren den offenen Brief “von Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit an Bundesminister Rudolf Anschober und die Wr. Stadtregierung” den wir als Initiative Sommerpaket neben vielen anderen Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen unterzeichnet haben.

 

Auflösung aller Lager und Massenquartiere und Zugang zu einem eigenen privaten Wohnraum für alle Menschen in Österreich

Seit Beginn der Corona-Krise ist von verschiedenen Expert*innen auf die Problematik der Unterbringung von Menschen in Lagern und Massenquartieren hingewiesen worden – das betrifft von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen ebenso wie geflüchtete Menschen. Nun wäre es wichtig, Lager und Massenquartiere aufzulösen und Programme zum Zugang zu einem eigenen privaten Wohnraum für alle Menschen in Österreich zu entwickeln. Dazu ruft der dieser offenen Brief von Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit an Bundesminister Rudolf Anschober und die Wr. Stadtregierung auf.

Offener Brief an
Bundesminister Rudolf Anschober
Bürgermeister Michael Ludwig
Vizebürgermeisterin Birgit Hebein
Stadträtin Kathrin Gaal
Stadtrat Peter Hacker

Die aktuelle Situation zeigt sehr deutlich, dass die Unterbringung von Menschen in Lagern und Massenquartieren krank macht und sogar lebensgefährlich sein kann. Nicht nur die Corona-Erkrankungen in der Flüchtlingseinrichtung „Haus Erdberg“ und in einer Wohnungsloseneinrichtung veranlassen die Unterzeichnenden zu diesem Brief. Schon lange ist aus Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit bekannt, dass die längerfristige Unterbringung in Massenquartieren, in denen geflüchtete und wohnungslose Menschen leben müssen, nicht nur gesundheitsgefährdend sind, sondern auch nicht den Standards von Wohnen entsprechen, die die meisten Menschen in Österreich erwarten und gewohnt sein sollten. Mit der Unterbringung in Massenquartieren geht einher, dass es keine privaten Rückzugsbereiche gibt und das Menschenrecht auf Privatsphäre somit nicht eingehalten wird. Das ist nicht nur in Zeiten der Corona-Krise gesundheitsgefährdend. Es schränkt die Möglichkeiten der Erholung ein und gefährdet damit auch die psychische Gesundheit.

Die Grundpfeiler des Wohnens und damit Voraussetzung für ein gesundes menschenwürdiges Leben beinhaltet die rechtlich abgesicherte Verfügung über einen eigenen Raum, der Privatheit und Beziehungspflege ermöglicht (vgl. ETHOS – Europäische Typologie für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnversorgung1).

Um die Menschen vor einer Corona-Erkrankung zu schützen, aber auch um zukünftig ein gesundes und menschenwürdiges Leben für alle Menschen, die in Österreich leben, zu ermöglichen, fordern die Unterzeichnenden die bald möglichste Auflösung aller Flüchtlingslager und Massenquartiere in Österreich. Notquartiere sollten ausschließlich der kurzfristigen und niederschwelligen Unterbringung dienen. Der Zugang zu einem eigenen privaten Wohnraum soll für alle Menschen, die in Österreich leben möglich sein – unabhängig von deren rechtlichen Status. Wir sind alle betroffen, in einer Gesellschaft zu leben, in der Menschen in gesundheitsgefährdenden bzw. menschenunwürdigen Wohnverhältnissen untergebracht sind.

Weiters fordern die Unterzeichnenden, dass auf kommunaler, Landes- und nationaler Ebene ein Plan zur Wohnversorgung und Wohnungssicherung für alle Menschen, die in Österreich leben, erarbeitet wird. Wir appellieren daran sowohl national als auch kommunal, sowie auf Ebene der Bundesländer die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Wir fordern insbesondere den Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, Vizebürgermeisterin Birgit Hebein, Stadträtin Kathrin Gaal für Wohnen, Wohnbau, Stadterneuerung und Frauen, sowie Stadtrat Peter Hacker für Soziales, Gesundheit und Sport auf, die Corona-Krise zum Anlass zu nehmen, moderne Konzepte der Wohnversorgung und -sicherung zu entwickeln, die einer wohlhabenden internationalen Metropole als solidarischer Stadt gerecht werden. Außerdem fordern wir den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Rudolf Anschober auf, dieses Vorhaben mit nationalen Mittel und Anstrengungen zu unterstützen. Wir empfehlen die Nutzung der Expertise in Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit zu international bewährten Konzepten und Modellen wie „housing first“.

Wir schließen uns in diesem Zusammenhang der Aufforderung der BAWO an die Bundesregierung „vom Krisenmanagement der Covid 19-Pandemie für die Zukunft lernen: Obdach- und Wohnungslosigkeit jetzt strukturell bekämpfen“ (https://bawo.at/aktuelles) an. Außerdem unterstützen wir die Forderung der BAWO nach Verankerung des Rechts auf Wohnen in der Verfassung, eine Ratifizierung der Paragrafen 30 und 31 der revidierten europäischen Sozialcharta zum Schutz vor Armut, Ausgrenzung und Wohnungslosigkeit sowie die Annahme des Zusatzprotokolls über Kollektivbeschwerden, um das Recht auch einklagbar zu machen.

Christoph Stoik (FH-Professor für Soziale Arbeit an der FH Campus Wien),
christoph.stoik@fh-campuswien.ac.at
KNAST – Kritisches Netzwerk aktivistischer Sozialer Arbeit,
knast@klingt.org

Initiative Sommerpaket

Kollektiv Raumstation Wien

Mieter*inneninitiative Wien (Mieterinnen.org)

Recht auf Stadt Netzwerk Wien

Seebrücke Wien

Straßenzeitung Augustin

Gabriele Bargehr, Msc (Organisations- u. Unternehmensberatung, Gender- und Diversity Management, Trainings, Moderationen, Supervision und Coaching)

Anna Fischlmayr (Sozialarbeiterin, nebenberuflich Lehrende an der FH Campus Wien)

Tina Füchslbauer (Sozialarbeiterin, nebenberuflich Lehrende an der FH Campus Wien)

Eva Grigori (FH-Dozentin Department Soziales FH St. Pölten)

Simon Güntner (Professor für Raumsoziologie, Fakultät für Architektur und Raumplanung, TU Wien)

Alexander Hamedinger (ao. Univ. Prof. der Stadt- und Regionalsoziologie, TU Wien, Fakultät für Architektur und Raumplanung, FB Soziologie)

Gabu Heindl, Architektin und Stadtplanerin in Wien, Gastprofessorin an der AA London

Manuela Hofer (Sozialarbeiterin und Politikwissenschaftlerin)

Beatrix Kaiser (Sozialarbeiterin, klinische und Gesundheitspsychologin)

Johannes Kellner (Sozialarbeiter und Politikwissenschafter)

Katharina Kirsch-Soriano da Silva (Architektin und Stadtteilarbeiterin, Lektorin an der FH Campus Wien)

Raphaela Kogler (Soziologin und Bildungswissenschaftlerin)

Antje Haussen Lewis (Sozialarbeiterin in der Wohnungslosenhilfe, Lehrende an der FH Campus Wien)

Christine Mack

Erna Neumüller (Sozialarbeiterin, Supervisorin, Organisationsberaterin, ehrenamtliche Betreuung und Begleitung von rund 20 Flüchtlingen)

Johannes Polt

Judith Ranftler (Volkshilfe Österreich)

Verena Scharf (Lektorin FH Campus Wien)

Doris Stephan (Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, Lektorin an der FH Campus Wien)

Martin Tiefenthaler (Sozialarbeiter, nebenberuflich Lehrender FH Campus Wien)

Stella Vötsch

Bernhard Wernitznig (Sozialarbeiter Straßenzeitung Augustin & Berater Mieter*innen-Initiative)

Annika Zigelli (Mitarbeiterin beim Verein LOK und Aktivistin der Seebrücke Wien)