Heuer wurde zum zweiten Mal pandemiebedingt das Winterpaket bis Anfang August verlängert. Nicht selten werden wir gefragt, ob die Initiative Sommerpaket mit der Verlängerung des Winterpakets nicht ihre Forderungen verwirklicht sieht.
Die Antwort ist nein. Seit Beginn fordern wir eine ganzjährige Lösung gemeinsam mit nachhaltigen Änderungen im Bereich. 365-Tage-Unterbringung in prekären Notquartieren bei minimaler Personalbesetzung ist damit nicht gemeint.
Zugegeben, auch wir wussten nicht, wie sich ein ganzjähriges Programm des Winterpakets auf die Wiener Wohnungslosenhilfe (WWH) auswirken würde – haben wir ja weder die Ressourcen noch die Möglichkeiten, umfangreiche Forschungen oder Abschätzungen anzustellen. Doch braucht es solche umfangreiche Forschung nicht, um schon mal so viel zu sagen: Strukturen, die immer schon einzig auf eine Notlösung ausgelegt waren, können niemals als Ersatz für einen gesicherten Wohnort dienen. Im Gegenteil ist bewiesen, dass ein längerfristiges Leben in solchen immens prekären Strukturen die gesundheitliche Verfassung rapide abbauen lässt. War es zuvor noch Usus, von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen eine gewisse Mobilität abzuverlangen, indem sie gezwungen waren, jeden Tag aufs Neue die Notquartiere in der Früh zu verlassen, Tageszentren und Wärmestuben aufzusuchen, um am Abend auch dort wieder vor die Tür gesetzt zu werden, wird ihr Leben jetzt in 24/7-Einrichtungen auf ein nahezu Verhaftetsein vor Ort reduziert. So oder so eine belastende Situation, die alles andere als gesundheitsförderlich wirkt.
Natürlich: Bis zum Beginn der Pandemie war eine Verlängerung des Winterpakets nahezu undenkbar. Und von vielen Akteur_innen wurde sie im Sinne der Pandemiebekämpfung als Ad-hoc-Maßnahme auch begrüßt. Aber ihre Zweckmäßigkeit haben wir von Beginn an bezweifelt, und forderten die Öffnung von Hotels, um im Sinne eines „think outside the box“ aufzuzeigen, dass es Platz genug gibt und Massenquartiere in einer Pandemie noch weniger denn je ein sicherer Ort sind. Die vielfachen Covid-19-Cluster der letzten Monate bestätigen das leider.
Perspektiven auf Stadtpolitiken
Wo stehen wir aktuell? So gut wie alle nennenswerten Notquartiere (NQs), die im Rahmen des Winterpakets geöffnet wurden, befinden sich außerhalb des Wiener Gürtels. Die Schließung und den Kampf um das NQ Gudrunstraße haben im Frühling viele mitbekommen. Eines der letzten NQs in U-Bahn nähe steht damit (zur Zeit) nicht mehr zur Verfügung. Letztes Jahr wurde das barriereärmere NQ Apollogasse geschlossen, um dem Bauprojekt Sophie 7 der Stadt Wien zu weichen. Aus dem gleichen Grund vor etwa einem Monat auch die Wärmestube Apollogasse. Die aktuell bestehenden Notquartiere finden sich auf entlegenen und schwer zu erreichenden Industriegebieten (NQ Nord, Floridsdorf) oder in abgelegenen stillgelegten Krankenhaustrakten (NQ Pavillon VIII GZW, Hietzing; Haus Baumgarten, Penzing). Und so zählen die Einrichtungen in der Kerschensteinergasse im 12. Bezirk auf einmal zu den zentraleren Unterkunftsmöglichkeiten.
Das Chancenhaus Kerschensteinergasse, das sich neben dem NQ Meidling der Caritas befindet, wird vom Arbeiter Samariter Bund (ASB) betrieben. Das Gebäude, in dem es sich befindet, wurde vor fast zwei Jahren für die Wohnungslosenhilfe geöffnet, damals unter dem Namen Offenes Haus, um Wohnungslose vom Esterházypark wegzubekommen. Damit ist es ein Paradebeispiel aktiver Verdrängung, zu deren Zweck kurzerhand viele Ressourcen mobilisiert wurden, um den 6. Bezirk ansehnlich zu bekommen. Und so lässt sich ein Bild („Aus den Augen – aus dem Sinn“) nachzeichnen, das sich für einen großen Teil der Wiener Wohnungslosenhilfe feststellen lässt, und sich gut mit der forcierten Entwicklung der Stadt Wien deckt, die für kapitalfreudige Anleger_innen seit einiger Zeit hoch im Kurs steht.
Eine Verlängerung des Winterpakets kommt da nicht ungelegen, wenn das bedeutet, dass sich offensichtlich armutsbetroffene und obdachlose Menschen in Wien nicht im Stadtzentrum „rumtreiben“ und so dem Glanz des imperialen Prunks einen kleinen Reality-Check verpassen.
Die Stadt ist sehr bemüht, sicherzustellen, dass die Armut, die sie aktiv mitproduziert, unsichtbar gemacht wird. Als Initiative Sommerpaket haben wir uns entschieden, das nicht mitzutragen, den Missstand sichtbar zu machen und dagegen anzukämpfen.
Perspektiven auf Betroffene
Abseits dieser stadtpolitischen Betrachtungen stellt sich natürlich die Frage, was eine Verlängerung des Winterpakets für die Nutzer_innen selbst bedeutet. Auf der einen Seite war ein Aufatmen zu spüren. Nicht mehr nur in der Nacht und nicht mehr nur im Winter eine (wenn auch prekäre) Unterkunft zu haben, stellte für viele eine unverhoffte Erleichterung dar. Die faktische Abgeschiedenheit der Notquartiere vom Stadtzentrum führt jedoch dazu, dass viele der Betroffenen die Einrichtungen nicht mehr verlassen (können). Bei manchen Nutzer_innen ist als Folge ein rapider Abbau der gesundheitlichen Verfassung zu beobachten. Die oben dargestellte Verdrängung an die städtischen Peripherien bedeutet auch, dass kaum noch eine Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Stadt, in der man lebt, stattfinden kann. Damit wird der Schlafort zu einem Platz, wo die eigene Existenz nur noch dahinvegetiert.
Dieses Phänomen wird im akademischen Kontext unter dem Label der Biopolitiken subsumiert. Biopolitik meint die Organisation von Bevölkerung nach Aspekten einer Verwertungslogik, durch die Menschen zum einen eingeteilt werden, diese Logik aber gleichermaßen auch verinnerlichen. Menschen fügen sich und bewegen sich nach den vorgegebenen Strukturen, die entlang von Politiken geschaffen und aufgebaut werden. Für den Kontext von Obdachlosigkeit bedeutet das, dass es sich bei obdachlosen Menschen um eine Bevölkerungsgruppe handelt, die nach Kapital- und Mehrwertinteressen schlicht keinen Wert besitzt. Während für andere Teile der Bevölkerung als Bürger_innen Politik gemacht wird, wird mit obdachlosen Menschen als Masse verfahren. Sie gelten als Kostenfaktor, nicht als Individuen mit Rechten. In gefährlicher Kontinuität sozialdarwinistischer Ideologien „liegen sie dem Staat nur auf der Tasche“. Doch bevor es zum finalen Tabubruch kommt, werden sie – überspitzt formuliert – in Massenlagern am Leben gehalten.
Die Unterteilung in anspruchs- und nichtanspruchsberechtigte Menschen, mit der die nationalstaatlich ausgerichtete Sozialpolitik des Wohlfahrtsstaats der biopolitischen Logik folgt, spaltet die Betroffenengruppe. Für wohnungslose Menschen mit sozialrechtlichen Ansprüchen werden sich, träge aber doch, neue Angebote ausgedacht, die einen Ausstieg aus der Wohnungslosigkeit ermöglichen sollen. Wer aber keine Ansprüche auf Leistungen aus der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe hat, dem_der steht nur das Minimalste vom Mindesten zu. Er_sie ist auf caritative (Not-)Hilfsangebote angewiesen, die das letzte soziale Netz bilden. Der Zugang zur gesetzlichen Gesundheitsversorgung ist verwehrt, ohne Meldezettel gibt es keine Arbeit, ohne Arbeit keinen legalen Aufenthalt und ohne legalen Aufenthalt die tägliche Gefahr der polizeilichen Willkür.
Auch diesen Logiken der Grenzziehung und des Ausschlusses, die in der WWH kaum offen diskutiert oder in Frage gestellt werden, sagen wir den Kampf an.
Perspektiven auf Angestellte
Dass eine Struktur, die selbst nicht rentabel ist, in einer nach Profit ausgerichteten Gesellschaftsordnung am allerbesten gar nichts kosten sollte, ist eh klar. Dass sich genau diese Logik nun auf die Anstellungsstrukturen in der WWH übersetzt, sollte dabei nicht überraschen. Und trotzdem ist es ungeheuerlich, wenn Kostenfaktoren ein sich selbst als humanitäres Projekt verkaufendes Unterfangen, wie das Winterpaket der Stadt Wien, definieren und dominieren. Wie sich das zeigt, können wir in nahezu allen Einrichtungen der WWH beobachten, die häufig strukturell unterbesetzt sind. So wurde auf der einen Seite über die Jahre hinweg das Angebot zahlenmäßig kontinuierlich ausgebaut – und auf der anderen Seite personell sukzessive abgebaut. Ein Beispiel dafür ist das jetzt geschlossene NQ Gudrunstraße, das von vornherein so konzipiert wurde, dass es sich vom Personalschlüssel her nicht ausgehen konnte.
Was ist die Konsequenz? Dass Menschen sich mit Überstunden ins Burnout arbeiten, was zu mehr Vertretungen und Belastungen bei einspringenden Kolleg_innen führt, die dann ihre Über- und Mehrstunden durch Zeitausgleich abbauen müssen, was wiederum zu unterbesetzten Diensten führt, weil Kolleg_innen im Zeitausgleich sind und so weiter und so fort. Die Dynamik ist klar, die Konsequenz tragen die Angestellten – und damit auch die Klient_innen. Von Seiten der Trägerorganisationen wird das wissentlich in Kauf genommen. Und so wurden mit Anfang des Jahres nach enormem Druck der Belegschaft in der „Gudi“ vier Stellen ausgeschrieben. Ganze vier Stellen. An dieser Zahl wird erkennbar, wie viel eingespart wird und wie hoch die Belastung für ein Team ist, wenn vier potenzielle Kolleg_innen fehlen. Das Covid-19-Cluster im NQ Gudrunstraße (wie auch in anderen NQs) und die in Kauf genommene Gefährdung der Angestellten wurden schon an anderer Stelle besprochen.
Auch die im Winterpaket üblichen Befristungen der Anstellungsverhältnisse stellen nicht nur für die Mitarbeiter_innen eine Belastung dar, sondern bedeuten auch den regelmäßigen Verlust von Erfahrung und Kompetenz, wenn Angestellte der Prekarität befristeter Verträge entkommen wollen.
Der permanenten Drückung von Personalkosten, sowie der Mehrbelastung durch Mehr-Arbeit, unzumutbare Zustände und dem System von faktischen Kettenverträgen sagen wir mit unserer Basisorganisation den Kampf an.
Das bedeutet für uns…
Ganzjährige Angebote auch für obdachlose Menschen ohne sozialrechtliche Ansprüche braucht es dringend! Ebenso wie gute Arbeitsbedingungen für alle im Bereich Beschäftigten. Eine ganzjährige Öffnung des Winterpakets im status quo kann aber nicht unser Ziel sein.
Mehr noch: Wenn wir ehrlich sind und uns selbst ernst nehmen, arbeiten wir an einer breiten Aufhebung unseres Arbeitsbereiches. Wir sind für ein Ende der unfreiwilligen und nicht selbstgewählten Wohnungslosigkeit und damit für die Überflüssigmachung unserer Jobs. Und gleichzeitig sind wir in dem Widerspruch gefangen, das Geld zu brauchen, um selbst auch bissi leben zu können. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen. Und trotzdem wollen wir die Gegebenheiten und unseren Kompliz_innenstatus nicht ohne Widerstand hinnehmen.