Anonym von einem Basismitarbeiter+/einer Basismitarbeiterin* der Wohnungslosenhilfe Wien zugesendet.
“Wohin, wenn man kein zu Hause hat..
Ein kleiner Virus, welchen viele im Jänner gar nicht kannten oder als regionales Phänomen in China abtaten, verändert seit Wochen unser Leben tiefgreifend. Während viele die Straßen und Parks nun ausschweifender zum Flanieren nutzen und die Öffies möglichst meiden, sind jene noch dort, die keine andere Möglichkeit haben.
Täglich ruft sie an, fragt nach einem Schlafplatz. Er ist in diesen Tagen nicht nur der Ort zum Duschen, Wäschewaschen und für eine kleine Mahlzeit ist, er bietet auch Schutz vor den verächtlichen Blicken derer, die ihre Not selbst nicht kennen und den harschen Fragen der Polizei: „Was machen sie hier? Sie wissen doch, dass eine Ausgangsbeschränkung herrscht!“ Aber wohin soll man, wenn man kein zu Hause hat?
Scharm und Unterwürfigkeit liegt in der Stimme der Anruferin. Ich erkenne sie wieder. Schon am vierten Tag in Folge ruft sie an, fragt: „Haben sie heute einen Schlafplatz für mich? Ich weiß nicht, wo ich hin soll.“ Ein Blick auf meine Liste zeigt, wieder muss ich sie enttäuschen. Ich frage, wie jeden Tag, ob sie es schon in den anderen Notquartieren versucht hat. Und wie jeden Tag antwortet sie: „Ja, leider alles voll.“ Ihre Verzweiflung schreit durch den Hörer, auch wenn sie ganz leise spricht. Ihre Enttäuschung spüre ich bis in die tiefen meines Magen, sodass es meine Worte kaum noch den Hörer erreichen: „Es tut mir sehr leid. Leider kann ich ihnen heute nicht weiterhelfen.“ Zynisch mag es anmuten, dass ich sie jeden Tag erneut bitte es morgen wieder zu versuchen.
Doch was bleibt ihr, außer der Hoffnung, dass sie morgen einen Platz bekommt. Dass sie morgen nicht in einem Hauseingang schlafen muss, immer auf der Hut vor den Bewohnern, die sie verjagen. Die Hoffnung morgen nicht wieder wachenden Auges vor den Leidensgenoss*innen im Tageszentrum sitzen muss, welche sie zwar schon seit Monaten ganz gut kennt, die aber unangenehm werden können, wenn sie zu viel getrunken haben. Dass sie morgen ausgiebig duschen kann. Wenn auch nicht in ihrer eigenen Wohnung, aus der sie delogiert wurde, aber in einem gemeinsamen Sanitärraum im Wohnungslosenquartier, den man zumindest abschließen kann. Und wo sie anschließend eine kleine Jause, ein paar Scheiben Brot und einen Fleischaufstrich aus der Dose, bekommt. Eine Hoffnung, die mit jeder Absage weiter schwindet.
Corona bedeutet für sie, noch schwerer einen Schlafplatz zu bekommen, da die raren Plätze in Frauennotquartieren noch weniger werden, um auf Erkrankungen mit Isolationszimmern reagieren zu können. Die Pandemie bedeutet heute lange zu warten, bevor sie in das Tageszentrum darf, um einen Kaffee zu trinken, da sich dort aus Infektionsschutzgründen weniger Menschen aufhalten dürfen. Der Virus bedeutet ihre Sozialarbeiterin nur schwerlich zu erreichen, da sie als Risikogruppe im Home-Office arbeitet und es so mit ihrem Antrag auf Notstandshilfe länger dauern wird.
Doch nicht zuletzt bedeutet die Situation weiter allein auf den Straßen zu sein, umringt von spazierenden Menschen, die nicht wissen, wie ihre Not in der „lebenswertesten Stadt“ aussieht. Ein kleiner Virus verändert das Leben von vielen. Doch für manche kommt auf die tagtägliche Not noch ein Schäufelchen drauf, dass sie kaum noch zu ertragen ist.
Ich lege auf, ohne zu wissen, wie es ihr weiter ergehen wird. Das Telefon klingelt erneut und ich weiß: Es wird nicht der letzte Anruf sein, der so verläuft.”
Arbeitswelt mit Corona erster Teil